Scheinselbstständigkeit der Honorarkräfte an Niedersächsischen Schulen

In Niedersachsen gerät der Verdacht der Scheinselbstständigkeit beim Einsatz freier Mitarbeiter an Ganztagsschulen seit Sommer wieder in die Diskussion. Die Deutsche Rentenversicherung hat mehr als 20.000 Verträge zur Einzelüberprüfung angefordert. Nach aktuellen Meldungen droht eine Nachforderung von bis zu 18 Millionen EUR.

So jedenfalls die Hannoversche Allgemeine Zeitung am 20.09.2012. Worum geht es: Das Land hat die Ganztagsschulen ermächtigt, außerschulisches Personal für ganztagsspezifische Aufgaben einzusetzen. Mit diesen Mitarbeitern dürfen auch Honorarverträge abgeschlossen werden. D.h. freie Mitarbeiter arbeiten auf selbstständiger Basis an den Schulen und tragen ihr Versicherungsrisiko selbst. Diese Handhabung hat schon vor längerer Zeit die Deutsche Rentenversicherung auf den Plan gerufen. Dort wittert man entgangene Sozialversicherungsbeiträge. Die betroffenen Schulen wurden aufgefordert, sämtliche Verträge innerhalb kurzer Frist vorzulegen. Es soll eine Betriebsprüfung durchgeführt werden.

Im Januar 2012 gab Kultusminister Althusmann nach Gesprächen mit den Versicherungsträgern und einem kurzen Moratorium wieder grünes Licht für den Abschluss von Honorarverträgen. Die Schulen erhalten ein Vertragsmuster. Der Minister gibt sich siegessicher. Auf der Website des Ministeriums ist von Rechtssicherheit die Rede. Wenn man sich dabei nicht täuscht. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist es gar nicht möglich, die Sozialversicherungspflicht einer Tätigkeit von vornherein rechtssichert allein durch einen formellen Vertrag auszuschließen. Das BSG betont in ständiger Rechtsprechung, dass diese Frage nur anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles entschieden werden kann. Das erklärt, weshalb die DRV in eine umfangreiche und wohl mehrere Jahre andauernde Einzelfallprüfung eingetreten ist. Zu prüfen sind nämlich nicht allein die schriftlichen Verträge, sondern die konkreten Verhältnisse am Ort des Geschehens. Jedermann kann sich leicht ausmalen, dass der Schulalltag ganz andere Anforderungen stellt, die die Verträge nicht bedenken.

Ergebnis offen

Das Ergebnis muss nach jetzigem Stand, zumindest wenn man den Stand der veröffentlichten Informationen berücksichtigt, als offen angesehen werden. Denn wie gesagt: `Die Frage, ob eine Mitarbeiter selbstständig tätig ist oder abhängig beschäftigt wird und damit auch der Sozialversicherung unterliegt, kann nicht allein anhand des Vertragswortlauts beurteilt werden. Maßgeblich ist auch, wie die Tätigkeit im Schulalltag konkret gelebt wird. Das Risiko der Scheinselbstständigkeit lässt sich deshalb alleine durch einen schriftlichen Vertrag nicht von vornherein rechtssicher ausschließen. Insoweit könnten sich einige Beteiligte einer Täuschung hinzugeben, sofern sie meinen, dass allein durch die Gestaltung eines schriftlichen Vertrages Rechtssicherheit geschaffen werden kann. Dies lässt sich so nicht bestätigen (BSG – 25.01.2001 – B 12 KR 18/00; BSG – 12.02.2004 – B 12 KR 26/02 R)

Vorgaben des Landes

Zwischen Vertretern der Deutschen Rentenversicherungsträger und dem Land Niedersachsen wurden Ende 2011 intensive Gespräche geführt. Im Ergebnis geht das Land insoweit zu recht, davon aus, dass der Einsatz von Honorarkräften an Schulen nicht grundsätzlich unzulässig ist. Im Anschluss an diese Gespräche hat Kultusminister Althuesmann in einem Rundschreiben vom 04.01.2012 an alle Schulleitungen in Niedersachen die Vorgaben für den Abschluss von Honorarverträgen formuliert. Den Schulen wird eine Handreichung zur Vertragsgestaltung gegeben und auch festgelegt, in welchen Bereichen der Einsatz von Honorarkräften möglich ist, z.B. in außerunterrichtlichen Ganztagsangeboten (Sport-AGs, Musik, Kunst), die nach eigenem Konzept, ohne Abstimmung mit Lehrkräften, ohne Weiterführung von Unterrichtsangeboten und ohne Einfluss auf Notengebung durchgeführt werden, oder bei zeitlich begrenzten Projekten, die Informationen bzw. Fertigkeiten vermitteln, die nicht zum üblichen Unterricht gehören (z. B. Imkerei) und selbständig und weisungsunabhängig durchgeführt werden. Des weiteren hat das Kultusministerium den Einsatz der Betreuer in einem Runderlass vom 21.03.2012 "Einsatz von außerschulischen Partnern und Fachkräften im Zusammenhang mit ganztagsspezifischen Angeboten" geregelt. Ob diese Regelungen für eine abschließende Klärung ausreichend sind, darf bezweifelt werden.

Gesetzliche Regelung und Rechtsprechung

Die gesetzliche Regelung, wonach über das Vorliegen einer Beschäftigung zu entscheiden ist, sind oberflächlich und auch nicht abschließend. Nach dem Wortlaut des Gesetzes (§ 7 Abs. 1 SGB IV) ist Beschäftigung die nicht selbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte dafür sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Diese Bestimmung ist aber nicht klar und eindeutig. Deshalb hat das Bundessozialgericht eine Formel entwickelt, die maßgeblich auch auf die konkrete Ausgestaltung der Tätigkeit im Einzelfall abstellt. Sie wird von allen Sozialgerichten angewendet. Eine Beschäftigung setzt demnach voraus, dass „der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und er dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung unfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte und eigener Betriebsmittel, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im wesentlichen freigestellte Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben letztere den Ausschlag.“ Das Prüfungsschema ist denkbar einfach: Zunächst schaut man sich die vertraglichen Vereinbarungen an: Was haben die Parteien tatsächlich gewollt? In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob die tatsächlichen Verhältnisse mit den vertraglichen Vereinbarungen übereinstimmen. Wie wird die Vertragsbeziehung praktisch gelebt? Steht die konkrete Praxis vor Ort im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen geht sie der formellen Vereinbarung regelmäßig vor. Kommt man nach diesem Schritt zu keinem eindeutigen Ergebnis, soll der Wille der Vertragsparteien ausschlaggebend sein. Man muss also den formellen Vertrag mit der gelebten Praxis vergleichen. Die Sozialgerichtsbarkeit hat für die Abgrenzung eine Reihe von Kriterien entwickelt, die in jedem Einzelfall konkret geprüft werden müssen.

Vertrag

Schaut man sich unter diesem Blickwinkel zunächst den vom Kultusministerium entwickelten Mustervertrag an, findet man beides: Sowohl echte Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit, aber auch Merkmale einer abhängigen Beschäftigung. Ob dieses Vertragsmuster mit der DRV abgestimmt wurde, lässt sich den Veröffentlichungen des Ministeriums nicht entnehmen. Einiges deutet darauf hin, dass dies nicht der Fall ist, denn die vollständige Prüfung durch die Versicherungsträger steht ja gerade noch bevor.

Merkmale abhängiger Beschäftigung

Der Vertrag enthält durchaus Merkmale einer abhängigen Beschäftigung. Dies sind z.B. konkrete Vorgaben hinsichtlich Zeit und Ort und Dauer der Tätigkeit. Die Honorarkräfte müssen, wie könnte es anders sein, zu bestimmten Tagen und Stunden in den von der Schule vorgegebenen Örtlichkeiten ihre Arbeit verrichten. Sogar die Raumnummer kann von der Schule vorgegeben werden (§ 1 Abs. 3 und 4 des Vertragsmusters). Eine Pflicht zur Anwesenheit in den Diensträumen zumindest während der normalen Dienststunden und eine vereinbarte Mindestdauer der Arbeitszeit spricht nach der Rechtsprechung des BSG für eine Eingliederung in den Betrieb hinsichtlich Zeit, Ort und Dauer der Tätigkeit und damit eher für abhängige Beschäftigung als für Selbstständigkeit (BSG – 25.01.2001 – B 12 KR 18/00).

Verbunden mit den Regelungen zum Honorar und der Kündigungsfrist verdichten sich die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung. Das BSG hat z.B. die Vereinbarung eines Pauschalhonorars ohne Koppelung an den Umfang des tatsächlichen Einsatzes schon als Indiz für abhängige Beschäftigung angesehen (BSG – 25.01.2001 – B 12 KR 18/00; BSG – 12.02.2004 – B 12 KR 26/02 R). Sollte sich bei der Prüfung ferner herausstellen, dass die Honorarkräfte über den vereinbarten Vertragsinhalt hinaus auch in anderer Weise weisungsabhängig im Schulalltag eingesetzt wurden (z.B. bei der Hausaufgabenhilfe oder im regulären Unterricht), wäre dies als Abweichung von den vertraglichen Vereinbarungen zu berücksichtigen und ein weiteres Indiz für abhängige Beschäftigung.

Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit

Natürlich enthält der Mustervertrag auch Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit. Das wichtigste Kriterium hierfür ist das sog. Unternehmerrisiko. Ein solches besteht nach der ständigen Rechtsprechung des BSG dann, wenn eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird und der Erfolg des Einsatzes von Sachmitteln oder persönlichen Mitteln ungewiss ist.

Bei den Honorarkräften dürfte der Einsatz eigenen Kapitals kaum vorkommen. Räumlichkeiten und – soweit erforderlich – Unterrichtsmaterialien stellt die Schule. Im Vordergrund steht der Einsatz persönlicher Mittel, sprich: der eigenen Arbeitskraft. Hier kann ein Verlustrisiko eintreten. So darf das Honorar durch Teilabrechnung gekürzt werden, wenn Einsatzstunden aus Gründen ausfallen, die die Honorarkraft zu vertreten hat. Dieses Verlustrisiko wird man als Merkmal der Selbstständigkeit werten müssen.  Des weiteren sieht der Vertrag vor, dass die Honorarkräfte sich auch neben dem Einsatz in der Schule unternehmerisch betätigen und die eigene Arbeitskraft anderweitig gewinnbringend verwerten dürfen. Auch dies kann ein Kennzeichen unternehmerischer Tätigkeit sein., man wird aber prüfen müssen, ob neben dem schulischen Einsatz in zeitlicher Hinsicht überhaupt noch Spielraum für anderweitige unternehmerische Tätigkeit verbleibt. Ferner soll ausgeschlossen sein, dass die Honorarkräfte in die schulischen Abläufe eingebunden werden. Auch dies könnte für gegen weisungsgebundene Tätigkeit sprechen. Zusatzverpflichtungen, wie z.B. die Teilnahme an Konferenzen, dürfen nicht auferlegt werden. Darauf weist der Minister in seinem Rundschreiben ausdrücklich hin.

Keine eindeutige Aussage

Die Verträge lassen somit eine eindeutige Einschätzung nicht zu. Sie enthalten Merkmale, die in beide Richtungen gedeutet werden können. Die Deutsche Rentenversicherung wird deshalb, sollte es nicht zu einer Einigung mit dem Land kommen, jedes einzelne Beschäftigungsverhältnis konkret untersuchen müssen.

Honorarkräfte als Lehrer

Neben dem Land Niedersachsen tragen allerdings auch die Honorarkräfte ein eigenes Risiko. Selbst wenn sich herausstellt, dass ihre Tätigkeit als selbstständig zu werten ist, droht ihnen möglicherweise die Rentenversicherungspflicht als selbständige Lehrer. Voraussetzung ist, dass sie lehrend tätig sind. Ob es sich um Schulfächer oder die Vermittlung anderer Kenntnisse handelt, ist unerheblich. Dass diese Gefahr besteht, verdeutlicht zum einen § 1 Abs. 6 des Vertrages. Dort wird geregelt, dass den Honorarkräften keinerlei Weisungen hinsichtlich Methodik und Didaktik erteilt werden dürfen. Diese Begriffe sind der Lehrtätigkeit zuzuordnen. Ferner hat der Minister in seinem Rundschreiben die Einsatzbereiche der Honorarkräfte umrissen. Beispielhaft werden Sport-AGs, Musik, Kunst genannt, die nach eigenem Konzept betrieben werden dürfen. Insoweit dürfte es eindeutig um Lehrtätigkeiten gehen. Für die Honorarkräfte könnte dies bedeuten: Selbständig tätige Lehrer, die ihrerseits keine versicherungspflichtigen Mitarbeiter beschäftigen, unterliegen gemäß § 2 Nr. 1 SGB VI der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Und zwar auf eigene Kosten.

Strafrechtliches Risiko

Das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen zudem kann strafbar sein (§ 266a StGB). Voraussetzung ist in erster Linie, dass der Auftraggeber mit Vorsatz gehandelt hat. Bedingter Vorsatz reicht aus.

Nachtrag:

Das Land Niedersachsen hat sich Ende 2013 mit der Deutschen Rentenversicherung geeinigt und deren Rechtsauffassung anerkannt. Es sollen Beiträge in Höhe von 12,5 Millionen EUR nachgezahlt werden: